Offener Brief: Armut darf nicht bestraft werden!

Am Beispiel „Fahren ohne Fahrschein“ will der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (aks Freiburg) hier eine Form der Armutsbestrafung zum Thema machen. Mit der Debatte um das 9€-Ticket ist die soziale Dimension um das Thema Mobilität angeschnitten. Zusätzlich erhält das Thema Brisanz nach über 2 Jahren Corona und Preissteigerungen die besonders arme Menschen trifft, Regelsätze die seit Jahren viel zu niedrig sind. Darüber hinaus werden, nach zeitweisem aussetzen, wieder Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt und auch die Knäste in Freiburg füllen sich wieder mit „Armutsdelikten“. pdf

RDL | Armut darf nicht bestraft werden!AKS Freiburg fordert Straftatbestand des „Fahrens ohne Fahrschein“ zu streichen und 0 Euro Sozialticket (8.7.2022)

Armut macht immobil

Armut hat viele negative Folgen für Menschen, die von ihr betroffen sind. Eine gravierende Folge ist die Einschränkung von Mobilität. Die Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) kostet Geld – und das nicht zu wenig. So können von Armut betroffene Menschen sich oftmals keine Fahrkarte leisten. Da der Mensch jedoch auf Mobilität angewiesen ist, beispielsweise für tägliche Bedarfe wie Einkauf oder Arztbesuche, sind arme Menschen oftmals in einer Zwangslage, aus der sie wenige Auswege haben. So kommt es häufig dazu, dass Menschen ohne Fahrschein fahren (müssen). 

Fahren ohne Fahrschein bringt Leute in den Knast

Werden Personen beim „Fahren ohne Fahrschein“ erwischt, steht nicht nur ein „erhöhtes Entgelt“ (meist um die 60 Euro) an, sie müssen zusätzlich mit einer Anzeige rechnen, da das „Fahren ohne gültigen Fahrschein“ gemäß § 265a StGB als „Erschleichen von Leistungen“ gilt. Übrigens ein Gesetz das im Nationalsozialismus 1935 erlassen wurde. Das „Erschleichen von Leistungen“ gilt als Straftat und wird in den meisten Fällen mit einer Geldstrafe bestraft.

Kann die Geldstrafe nicht bezahlt werden, und auch die Strafe nicht durch gemeinnütziger Arbeit abgeleistet werden (welche jene zeitliche und gesundheitliche Ressourcen voraussetzt, die ja meistens Grund für die Armut sind), wird eine Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet.

Konkret gesagt heißt dies, kannst du nicht zahlen oder arbeiten, gehst du in den Knast.

Armut wird bestraft

Wie sich jeder denken kann, sind reiche Menschen eher selten von „Erschleichen von Leistungen“ und einer Ersatzfreiheitsstrafe betroffen (sie haben ja Geld). Der Straftatbestand der „Erschleichen von Leistungen“ ist eine reine Bestrafung von Armut! Die dadurch einhergehenden Folgen und Belastungen treffen bedürftige Menschen hart. Auch eine kurze Zeit im Gefängnis kann traumatisierend sein. Die Strafe ist nicht zielführend, da sie keine wirksame Prävention darstellt. Sie ist kontraproduktiv, da sie bedürftige Menschen noch bedürftiger macht und sie durch den Gefängnisaufenthalt gesellschaftlich noch stärker stigmatisiert werden.

Sinnlosigkeit der Strafe durch sinnige Konzepte ersetzen

Anstelle der zusätzlichen Bestrafung könnten die Gelder, die der Staat hier verbraucht (Knäste sind teuer, Folgekosten durch Verlust der Wohnung, gesundheitliche Folgen von Knastaufenthalten, …), in die Vergabe von kostenlosen Sozialtickets oder einen kostenlosen ÖPNV investiert, oder auch Hartz IV durch ein in ausreichender Höhe bedingungsloses Grundeinkommen ersetzt werden. Es gibt viele Ideen, die das „Fahren ohne Fahrschein“ verhindern, dem Staat Kosten ersparen und am Wichtigsten: es den Menschen, die sich in einer schwierige Lage befinden, nicht noch schwieriger machen.

Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen steigt deutlich

Seit rund 30 Jahren steigt die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen deutlich. Das hat auch mit einer durch die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik verschärften Spaltung der Gesellschaft zu tun, an deren Rand die Gering- und Garnichtsverdiener*innen stehen. Inzwischen ist die Ersatzfreiheitsstrafe die häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland.

Wir fordern:

• Die Kriminalisierung armer Menschen stoppen!

• Die Bestrafung von Armutsdelikten stoppen!

• Der Straftatbestand des „Fahrens ohne Fahrschein“ muss ersatzlos gestrichen werden! Die Debatte um die ledigliche Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe greift zu kurz!

• Keine Anzeigen bei „Fahren ohne Fahrschein“ von Seiten der VAG!

• Gnadenerlasse für bereits erteilte Strafen forcieren! Alternativ dem www.freiheitsfonds.de folgend, Menschen aus dem Knast freikaufen!

• Kostenlosen ÖPNV oder kostenlose Sozialtickets!

• Zusammenarbeit und Strategie der Stadtverwaltung Freiburg mit der VAG!

Hintergrund

1. Thema „Kein Gefängnis mehr für Fahren ohne Fahrschein“

https://weact.campact.de/petitions/kein-gefangnis-mehr-fur-fahren-ohne-fahrschein-weg-mit-ss265a

– taz: Für Armut bestraft https://taz.de/Ersatzfreiheitsstrafen-in-Berlin/!5857164/

– Legal Tribune Online Sollte Schwarzfahren weiter bestraft werden? https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/eine-frage-an-thomas-fischer-schwarzfahren-weiter-bestrafen/

– Legal Tribune Online Ende eines unnötigen Delikts? https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/fahren-ohne-fahrschein-freiheitsfonds-ampelkoalition-erschleichen-265a-buschmann-gesetzesaenderung-schwarzfahren/

– Süddeutsche Schwarzgefahren? Ab in den Knast!https://www.sueddeutsche.de/politik/schwarzfahren-gefaengnisstrafe-justiz-deutschland-1.5582047

– Freiheitsfonds Wir kaufen Gefangene frei https://www.freiheitsfonds.de/

– In Bremerhaven verzichtet man darauf, das Fahren ohne Ticket anzuzeigen. Nun soll auch in Bremen niemand mehr deswegen ins Gefängnis. https://taz.de/Fahren-ohne-Fahrschein/!5860759/

2. Thema „Ersatzfreiheitsstrafe“:

– Kampagne zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe https://ersatzfreiheitsstrafe.de

– Tagessätze sollen in halben Tag umgewandelt werden https://taz.de/Ersatzfreiheitsstrafen-in-Deutschland/!5862399/

Veranstaltungshinweis

Mittwoch 9.11. Buchlesung mit Ronen Steinke mit seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich: Die neue Klassenjustiz“. Ein Veranstaltung zusammen mit dem aks Freiburg, akj Freiburg und der tacheles Reihe der Humanistischen Union.